Jeder von uns hat es schon erlebt: Da macht einer einen dummen Spruch – und trifft uns damit an unserer empfindlichsten Stelle. Wir sind verletzt und zutiefst gekränkt. An Vergebung – nicht zu denken! Wir sind beleidigt und brechen den Kontakt ab. Doch wenn wir so reagieren, könnten wir uns damit am Ende selbst am meisten strafen.
Vergeben zu lernen, ist wohl eine der größten Aufgaben überhaupt. Besonders, wenn die Verletzung tief sitzt. Doch es ist insbesondere für uns selbst wichtig, jemanden vergeben zu können. Denn, wenn wir es nicht tun, sind wir selbst es, die in den negativen Emotionen festhängen, statt uns daraus zu befreien.
In diesem Artikel erhältst Du wissenschaftliche Tipps, wie es Dir gelingen kann zu vergeben, Dich auszusöhnen, damit Du wieder mit voller Kraft und Zuversicht ins Leben starten kannst.
Gespannt? Gut, dann gehts los!
Was bedeutet Vergebung?
Die Fähigkeit vergeben zu können ist einer der Grundpfeiler unseres Zusammenlebens. Sie erlaubt es dem „Täter“ seine Schuld und dem „Opfer“ seine Verletzung zu überwinden. Auf diese Weise können beispielsweise Beziehungen wieder hergestellt werden und der Vergebende gelangt wieder zu innerem Frieden.
Der Täter hat keinen Anspruch darauf, dass ihm verziehen wird. Der Gekränkte entscheidet darüber, ob er jemandem vergibt, oder eben nicht. Wer vergibt, verzichtet darauf, sich zu rächen.
Vergebung in der Psychologie
Prof. Frederik Luskin ist US-amerikanischer Psychologe und u.a. Autor des Buchs „Forgive for Good“. Er gilt als einer der weltweit führenden Forscher und Lehrer zum Thema Vergebung. Unter anderem leitet er das Stanford Forgiveness Project, in dem er in verschiedenen Forschungsprojekten Vergebungsmethoden untersucht. Die Teilnehmer der Studien sind unter anderem Opfer des Bürgerkriegs in Nordirland.
Er berichtet über Vergebung Folgendes:
Es hat sich gezeigt, dass Vergebung Gefühle wie Wut, Verletzung, Depression und Stress reduziert und zu größeren Gefühlen der Hoffnung, des Friedens, des Mitgefühls und des Selbstvertrauens führt. Vergebung führt zu gesunden Beziehungen und zu körperlicher Gesundheit. Sie beeinflusst auch unsere Einstellung: Sie öffnet unser Herz für Freundlichkeit, Schönheit und Liebe.
Fred Luskin, US-Psychologe an der Stanford University über Vergebung
Was bewirkt Vergebung?
Ehrlich gemeinte Entschuldigungen können die Situation oder auch Beziehung entspannen. Sie tragen zur Versöhnung bei. Vergebung ist dabei ein Prozess, bei dem wir uns innerlich mit uns selbst aussöhnen. Es ist ein Weg in die Freiheit, heraus aus den kränkenden Gefühlen. Zu vergeben und sich anschließend mit der Person wieder versöhnen zu können, trägt zu unser (beider) Heilung bei.
Wer sich mit seiner Verletzungsgeschichte aussöhnen kann, wird sich anders an die Kränkung erinnern. Wir können sie dann als einen Teil unseres Lebens betrachten, der zwar schmerzhaft war, der uns aber heute nicht mehr belastet.
Welche positiven Auswirkungen hat es, wenn wir jemandem vergeben?
Der US-Psychologe Frederic Luskin von der Stanford University in Kalifornien hat eine Studie mit 250 Teilnehmern durchgeführt. Seiner Forschung zu Folge hat es viele positive Effekte auf unser eigenes Wohlbefinden, wenn wir es schaffen, zu vergeben:
- Stresssymptome werden deutlich reduziert
- Verspannungen nehmen ab
- Der Blutdruck sinkt
- Kopf- und Magenschmerzen werden reduziert
- Depressionen verbesserten sich
- die Teilnehmer waren weniger müde
- und sie litten seltener unter Schwindelsymptomen
- sie fühlten sich gesünder
- sie blickten optimistischer in die Zukunft
Diese Effekte hielten auch noch Monate nach der Studie an, waren also nachhaltig zu beobachten.
Warum ist Vergebung wichtig?
Vergebung ist deshalb von großer Bedeutung für uns, weil wir ansonsten permanent im Unfrieden mit anderen und mit uns selbst leben würden. Wenn wir gekränkt wurden, fühlen wir uns abgewertet. Wir fühlen uns minderwertig, sind wütend auf den anderen und wollen uns vielleicht rächen.
Viele reagieren mit grübeln darauf und können die Kränkung einfach nicht vergessen. Nur allein wenn wir den Namen des Menschen hören, der uns gekränkt hat, kocht alles wieder hoch. Wir können zwar den Kontakt zu dem Menschen abbrechen, aber damit sind unsere Gefühle noch lange nicht überwunden.
Doch wenn wir diese Gefühle nicht loslassen – schaden wir uns am Ende nur selbst am meisten.
Welche Reaktionen folgen häufig auf eine Kränkung?
Wenn uns jemand kränkt, egal ob absichtlich oder unbeabsichtigt, fühlen wir uns verletzt. Daraus entwickeln sich häufig Gefühle der Rache. Eine weitere häufige Reaktion auf eine Kränkung ist der Gegenangriff. Und am dritthäufigsten kommt es vor, dass Menschen in die Opferrolle verfallen.
Egal wie jeder einzelne von uns reagiert, eines sollten wir laut der Wissenschaft nicht tun: den Kontakt mit dem Menschen, der uns gekränkt hat, komplett abzubrechen. Stattdessen kann ein Rückzug sinnvoll sein.
Gibt es Menschen, die besonders leicht kränkbar sind?
Wer unter einem geringen Selbstwertgefühl leidet, ist potenziell anfälliger für Kränkungen, als andere. Wer also häufig unsicher ist und viel Bestätigung von außen braucht, kann sich schnell von anderen gekränkt fühlen. Sobald die Bestätigung, das Lob oder auch die Anerkennung von außen ausbleiben, oder man gar Kritik einstecken muss, ist die Gefahr verletzt zu werden groß.
Wenn wir dagegen an unserem Selbstwert arbeiten und wissen, wer wir sind, was wir können und was wir uns wünschen, ist das wie ein Puffer gegen potentielle Kränkungen.
Wie gelingt Vergebung?
Ob Vergebung gelingen kann, hängt in erster Linie von den beteiligten Personen ab. Und natürlich spielt auch die Verletzung selbst eine Rolle. Alle Religionen fordern ihre Gläubigen seit jeher zur Vergebung auf.
Im jüdischen Glauben gibt es das Prinzip des „Teshuvah“. Darunter versteht man drei Kriterien, unter denen Vergebung möglich wird: Demnach muss sich der Täter das Fehlverhalten zum einen eingestehen, es zweitens bereuen und drittens den Gekränkten um Vergebung bitten.
Eine andere Herangehensweise beschreibt die Ordensschwester Melanie Wolfers in ihrem Buch „Die Kraft der Vergebung“. Die Seelsorgerin beschreibt darin, wie wir mit Kränkungen umgehen können und sie so überwinden, dass wir wieder zu innerem Frieden gelangen und mit neuer Kraft hervorgehen.
Wo ist der Unterschied zwischen vergeben und versöhnen?
Laut Wolfers ist es zunächst mal wichtig, zwischen vergeben und versöhnen genau zu unterscheiden. Bei Versöhnung gehe es um einen zwischenmenschlichen Prozess.
Im Grunde ist Vergebung eine Art Friedensarbeit – mit uns selbst und an zweiter Stelle auch mit anderen. Es ist ein innerer psychischer Prozess, um sich von der Last der Kränkung zu befreien. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Beziehung anschließend wieder aufgenommen wird, oder überhaupt wieder aufgenommen werden kann. Wenn der Mensch, der uns die Kränkung zugefügt hat, beispielsweise bereits verstorben ist, kann zwar eine Versöhnung nicht mehr stattfinden, aber wir können ihnen trotzdem vergeben.
Gibt es einen Unterschied zwischen vergeben und verzeihen?
Das Wort Verzeihen leitet sich von „Verzicht“ ab. Wir verzichten darauf, uns zu rächen, in den Gegenangriff, oder die Opferrolle zu gehen.
Vergeben wiederum leitet sich von dem Wort „Gabe“ ab. Statt zu verzichten, machen wir unserem Gegenüber also ein „Geschenk“, wenn wir vergeben.
Um Vergebung können wir auch bitten. Gläubige Menschen tun das beispielsweise im Gebet. Sie bitten Gott zum Beispiel um die Vergebung ihrer Sünden. Es schwingt bei „Vergebung“ also mehr mit, als nur auf „Vergeltung“ zu verzichten.
Zu vergeben heißt, dass wir die negativen Gefühle, die mit der Situation oder dem Menschen verbunden waren – auflösen können, unseren inneren Frieden machen und uns mit der Person aussöhnen.
Melanie Wolfers – Seelsorgerin
Müssen wir vergeben?
Niemand kann Vergebung erwarten, oder sie gar einfordern. Selbst wenn der „Täter“ anschließend einiges dafür tut, dass wir ihm verzeihen – wir müssen ihm nicht vergeben.
Vergeben heißt auch keinesfalls, dass wir alles vergessen oder tolerieren, was uns angetan wird. Wir allein entscheiden darüber, ob wir jemandem vergeben wollen, oder nicht.
Zu vergeben ist also keine Pflicht. Sie lässt sich weder auf Ansage, noch auf Knopfdruck herbeiführen. Sie geschieht dann, wenn wir es wirklich wollen und uns auf den Prozess einlassen können, der kein leichter ist. Aber der sich lohnt, wie Melanie Wolfers sagt.
Vergebung soll in erster Linie Dir zugutekommen.
Prof. Fred Luskin, Einer der führenden Forscher auf dem Gebiet „Vergebung“
Wie können wir lernen zu vergeben?
Vergebung braucht Zeit, manchmal auch sehr viel Zeit. Und es braucht Mut und Vertrauen, über die eigenen Verletzungen zu sprechen und natürlich auch Großzügigkeit, unserem Gegenüber wirklich vergeben zu wollen.
Doch wenn es uns gelingt, uns wieder in die Augen sehen zu können, uns unsere Gefühle mitzuteilen und jeder dem anderen zuhört – dann kann Heilung passieren, wie Melanie Wolfers weiß.
„So ein Gespräch ist ein erster Schritt, der Versöhnung erst möglich machen kann, aber nicht zwingend muss.“
Melanie Wolfers hat in Wien eine Initiative gegründet, die „impulsLeben“ heißt. Dort bietet sie 4-wöchige Kurse an, in denen sie jungen Menschen den Weg zu innerer Aussöhnung zeigt. Ihr Kurs beinhaltet dabei sowohl spirituelle als auch psychologische Elemente.
Doch es gibt auch andere Methoden, Vergebung zu praktizieren. Eine davon hat der US-Psychologe Prof. Frederik Luskin entwickelt. Aus seinen Forschungen hat er neun Schritte abgeleitet, die uns dabei helfen können, Vergebung zu lernen.
Die 9 (wissenschaftlichen) Schritte der Vergebung
Prof. Fred Luskin von der Stanford Universität schlägt 9 wissenschaftlich erwiesene Schritte vor, wenn wir lernen wollen, zu vergeben. Sein 9 Schritte-Programm sieht Folgendes vor:
- Werde Dir Deiner Gefühle bewusst und beschreibe, was genau an der Situation nicht in Ordnung war. Dann sprich mit einer vertrauenswürdigen Person darüber.
- Versprich Dir selbst, dass Du alles tun wirst, was Du tun musst, um Dich besser zu fühlen. Vergebung soll in erster Linie Dir zugutekommen und nicht jemandem anderen.
- Vergeben heißt nicht unbedingt, dass Du Dich mit der Person, die Dich verletzt hat, versöhnen musst oder dass Du ihr Handeln einfach so hinnehmen solltest. Worum es Dir gehen sollte, ist Frieden zu finden. Man kann Vergebung so definieren: es ist der „Frieden und das Verständnis, die dadurch entstehen, dass man demjenigen, der einen verletzt hat, weniger Schuld gibt, indem man die Handlung weniger persönlich nimmt und die Geschichte, die wir uns selbst über die Kränkung erzählen, ändern.“
- Bringe das Geschehen in die richtige Perspektive. Werde Dir darüber bewusst, dass Dein hauptsächlicher Schmerz von den verletzten Gefühlen, Gedanken oder auch körperlichen Beschwerden herrührt, unter denen Du jetzt aktuell leidest, und nicht von dem, was Dich vor zwei Minuten – oder vor zehn Jahren – beleidigt oder verletzt hat. Vergebung hilft, diese verletzten Gefühle zu heilen.
- Wenn Du Dich das nächste mal beginnst zu ärgern, führe eine einfache Stressbewältigungstechnik durch, um die Flucht- oder Kampfreaktion Deines Körpers abzumildern.
- Höre auf, von anderen Menschen oder von Deinem eigenen Leben Dinge zu erwarten, die sie Dir nicht geben wollen. Erkenne es an, dass es „nicht einklagbaren Dinge“ gibt, die für Deine Gesundheit oder für das Verhalten von Dir oder anderen Menschen gelten. Erinner Dich daran, dass Du auf Gesundheit, Liebe, Frieden und Wohlstand hoffen darfst und auch daran arbeiten kannst, um sie zu bekommen.
- Suche einen anderen Weg, um Deine positiven Ziele zu erreichen, als nochmal den zu gehen, der Dich so verletzt hat. Versuche neue Wege zu finden, um das zu erreichen, was Du Dir wünschst, statt den Schmerz zu wiederholen.
- Vergiss nie: ein glückliches Leben ist die beste Rache, die Du Dir ausdenken kannst. Statt Dich auf Deine verletzten Gefühle zu konzentrieren und damit der Person, die Dir Schmerzen zugefügt hat, weiterhin Macht über Dich zu geben, lerne lieber, Deinen Fokus lieber auf die Liebe, Schönheit und Freundlichkeit zu lenken, die Dich umgibt. Bei der Vergebung geht es um persönliche Macht.
- Ändere Deine Leidensgeschichte: Du solltest Dich so daran erinnern können, dass Du die Entscheidung getroffen hast, jemandem zu vergeben.
Wie können wir uns in Zukunft vor Kränkungen schützen?
Wer ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl hat und liebevoll mit sich umgeht, läuft weniger Gefahr sich verletzt zu fühlen. Wir sollten also an unserem Selbstwertgefühl arbeiten, wenn wir uns in Zukunft vor Kränkungen schützen wollen.
Vergebung heißt, ich höre auf, auf eine positivere Vergangenheit zu hoffen, schaue nach vorn und öffne mich der Gegenwart und Zukunft neu.
Melanie Wolfers – Buchautorin und Seelsorgerin
Fazit:
Zu vergeben braucht Zeit und ist nicht auf Knopfdruck machbar. Es kann viel Kraft kosten, um die Verletzungen zu heilen, doch es lohnt sich. Wer zu innerem Frieden und Freiheit gelangen will, sollte sich seine Kränkungen bewusst machen, und versuchen zu vergeben, denn das kann eine große Heilung für uns bedeuten.
Denn, wie es Melanie Wolfers formuliert: Vergebung kann uns von der Frage nach dem „Warum?“ zu der Frage nach dem „Wozu?“ bringen.
Und diese Frage kann es uns möglich machen, an den Verletzungen sogar zu wachsen. Wir können lernen, früher Grenzen zu setzen und weniger Anerkennung von außen zu brauchen.
Kränkung können wir nicht ungeschehen machen, aber – und so unglaublich das erstmal klingen mag – wer die Hintergründe der Kränkung versteht, kann sich leichter mit ihr aussöhnen.
Versuchen wir also den Fehler zu vergeben, soweit das möglich ist – und die Lektion dahinter nie wieder zu vergessen.
Ich hoffe, ich konnte Dich inspirieren!
Deine Wohlfinderei
Quellen:
Melanie Wolfers: Die Kraft der Vergebung, Herder Freiburg
Dr. Fred Luskin, learning to forgive.com