Die meisten denken bei einer japanischen Weisheitslehre wahrscheinlich zuerst mal an japanische Teezeremonien und Zen-Buddhismus. Doch hast Du auch schon mal von Wabi-Sabi gehört? In der japanischen Kultur ist es eines der einflussreichsten Konzepte. Oberflächlich betrachtet ist es ein ästhetisches Konzept, doch dahinter steckt eine tiefgründige Lebensphilosophie.
In seiner ästhetischen Ausdrucksform ist Wabi-Sabi Dir sicher bereits aufgefallen: japanische Keramik ist häufig mit goldenen Adern durchzogen.
Was es damit auf sich hat, welche Lebensweisheit sich dahinter verbirgt und was das alles mit Wabi-Sabi zu tun hat, erfährst Du hier. Kleiner Spoiler: Wabi-Sabi kann uns dabei helfen, unsere Fehler, Makel, Unvollkommenheiten und Niederlagen in einem völlig neuen Licht zu sehen.
Klingt gut? Na dann, geht´s los!
Was ist Wabi-Sabi?
Wabi-Sabi ist ein jahrhundertealtes japanisches Konzept, das die Schönheit hinter der Unvollkommenheit der Dinge zelebriert.
Diese Lebensphilosophie ist tief in der japanischen Kultur verankert. Wabi-Sabi schätzt beispielsweise die Einfachheit und Unvollkommenheit aller Dinge und sieht die Vergänglichkeit von allem.
Die Lehre ermutigt uns dazu, das vollkommen Unvollkommene schätzen zu lernen.
Wabi Sabi und seine Bedeutung
Das Wort Wabi bedeutet heute in Japan so etwas wie „gedämpfter oder zurückhaltender Geschmack“. Ursprünglich stammt es aber von dem Verb wabiru ab, was „sich Sorgen machen“ heißt und mit Armut, Kargheit und Hoffnungslosigkeit verbunden wurde. Wabi steht dementsprechend für Einfachheit, Bescheidenheit und Genügsamkeit.
Sabi bedeutet so viel wie „Patina“ oder „elegante Schlichtheit“. Jede Art von Alterungsprozess hinterlässt „Sabi“ – eine Form von eleganter, besinnlicher Schönheit.
Wabi-Sabi hat seinen Ursprung im Buddhismus
In Wabi-Sabi stecken auch viele Denkansätze aus dem Buddhismus: beispielsweise die so genannten drei Daseinsmerkmale der Existenz: Vergänglichkeit (anicca), Leiden (dukkha) und Leere (anatta).
Wabi Sabi ist laut Buddhismus die Erkenntnis dieser vergänglichen, unvollkommenen Natur des Daseins. Doch uns darüber bewusst zu sein, dass alles in ständiger Bewegung und vergänglich ist, fällt unserem westlichen mindset meist schwer.
Wir wissen eigentlich, dass alles permanent im Fluss ist und nichts so bleibt, wie es ist. Dinge verschleißen, Menschen verändern sich, Situationen gehen vorüber. Und dennoch klammern wir uns oft an Ideen und Dinge, weil wir glauben, sie festhalten zu können, wie sie sind.
Dieser Widerstand ist laut der buddhistischen Lehre der Grund für Unzufriedenheit. Weil wir uns weigern anzuerkennen, dass das Leben von Natur aus einem ständigen Wandel unterliegt, unvollkommen und fehlerhaft ist.
Wabi-Sabi bedeutet, die Dinge in ihrem unvollkommenen, vergänglichen Zustand zu sehen. Diese tiefe Lebenserkenntnis ist der Kern der japanischen Lehre.
Doch nicht nur Buddhisten, auch Stoiker der griechischen Antike kannten diese Weisheit.
Mehr Weisheiten der Antike findest Du übrigens hier: Die 100+ schönsten Lebensweisheiten der Antike
Unvollkommenheit und nicht Vollkommenheit ist der natürliche Zustand allen Daseins auf Erden.
Doch wie kann uns diese Erkenntnis auch noch in unserer heutigen Welt nutzen? Mehr, als wir auf den ersten Blick glauben mögen, wie sich herausstellt. Hier folgen einige Beispiele, die Du direkt in Deinen Alltag integrieren kannst.
1. Wabi Sabi und unser digitales Wohlbefinden
Die Werbung und Social Media gaukeln uns eine Welt voller gut aussehender Menschen vor, die in paradiesischen Umgebungen zu leben scheinen und den ganzen Tag nichts anderes tun, als Spaß zu haben. Ein perfektes Leben, wie es scheint.
Menschen mit einem perfekt symmetrischen Gesicht, perfekt geformten Körpern, perfekten Haaren, perfekter Haut, einem perfekten Haus, Auto, Freunden, Familie, Partnern, Kindern, Haustieren, …. genau.
Ein Leben ohne Makel und Fehler.
Betrachtet man dieses Leben unter der japanischen Weltanschauung des Wabi-Sabi, ist es nichts anderes als die Jagd nach einer Illusion. Wir erinnern uns:
Unvollkommenheit und nicht Vollkommenheit ist der natürliche Zustand allen Daseins auf Erden.
Die japanische Lehre kann uns dabei helfen, dem Hamsterrad der Perfektion zu entkommen und stattdessen das Leben so zu schätzen, wie es ist: vollkommen unvollkommen und gerade deshalb so lebens- und liebenswert.
2. Wabi Sabi – bedeutet die Illusion von Perfektionismus abzulegen
Woher kommt eigentlich unser Streben nach Perfektion? Genau genommen erwächst es ja aus einem Gefühl von Mangel, Vergleich und Abwertung. Wir glauben, von etwas „nicht genug“ zu haben und sind uns selbst „nicht gut genug“. Wir fühlen uns zu dick, zu dünn, zu dumm, zu hässlich, zu arm, zu ungeschickt…. . Kurz: Wir glauben, uns fehlt etwas Entscheidendes, um „perfekt“ zu sein.
Dieses Gefühl, nicht gut genug zu sein, erschöpft uns, macht uns depressiv, ängstlich und wir beginnen uns selbst zu verachten. Vielleicht meint der Buddhismus genau das, wenn er von unserer „Unzufriedenheit“ und unserem „Leiden“ spricht.
Die Krux ist aber: weil alles in permanenter Veränderung ist, macht der Kampf um den „Idealzustand“ nur wenig Sinn. Beispiel: Wir alle werden älter, unsere Körper verändern sich, wir bekommen Falten und werden gebrechlicher. Wenn wir uns das nicht eingestehen, kann uns das langfristig unglücklich machen.
Wabi-Sabi fußt auf der Erkenntnis, dass alles im Leben vergänglich und unvollkommen ist. Deswegen geht die Lehre den entgegengesetzten Weg: Statt nach Vollkommenheit und Perfektion zu streben, stellt sie die Schönheit der Unvollkommenheit heraus.
Ein Beispiel aus der japanischen Ästhetik:
Wabi Sabi und Keramik – Kintsugi
Kintsugi ist die traditionelle japanische Kunst, zerbrochene Keramik zu reparieren. Meister dieses Handwerks können aus den Scherben wahre Kunstwerke erschaffen. Die Objekte sind anschließend wertvoller als ihre „unverletzten“ Originale.
Der „Makel“ wird bei dieser Kunstform aber nicht vertuscht, sondern im Gegenteil. Mit Hilfe von Goldstaub und Kleber wird dieser Bruch hervorgehoben und wieder „heil gemacht“. Das ist der Grund für die Goldadern in den Objekten.
Das Besondere: Der Kintsugi-Prozess (jap. Kint = Gold und Sugi = verbinden) ist aufwendig. Es erfordert viel Geduld und Sorgfalt, die Fehler zu „veredeln“, doch am Ende erstrahlt beispielsweise eine Tasse mit ihren goldenen Adern kostbarer als je zuvor.
Kintsugi ist so gesehen auch eine Metapher für innere und äußere Heilung und die Art wie Wabi-Sabi mit Fehlern umgeht, wie Du gleich noch näher erfahren wirst.
3. Wabi-Sabi sagt: „Brüche“ sind kostbar
Die japanische Handwerkskunst des Kintsugi zeigt nicht nur, wie man zerbrochene Keramik repariert. Sie steht auch sinnbildlich dafür, wie wir mit unseren eigenen Brüchen umgehen können, um sie zu heilen: geduldig, achtsam und mit viel Mitgefühl.
Was wäre, wenn wir die Narben, die das Leben uns zugefügt hat, nicht mehr verstecken müssten? Wenn unsere Verletzlichkeit keine Schwäche mehr wäre, sondern ein Zeichen innerer Stärke, die die Chance auf persönliches Wachstum in sich trägt?
Unsere Verletzungen offen anzuerkennen, sie geduldig und mit viel Feingefühl aufzuarbeiten und so gestärkt aus diesem Prozess herauszugehen, entspricht der Lehre des Wabi-Sabi.
Übertragen bedeutet das: Wenn unsere Leben buchstäblich in die Brüche geht, setzen wir es ganz achtsam in neuer Form zusammen und bauen so ein neues auf, das noch kostbarer ist als das alte.
4. Wabi-Sabi – Scheitern ist ein wichtiger Teil des Wachstums
Wir kennen es alle: Ein Ziel nicht erreichen. Eine Absage erhalten. Eine Prüfung verpatzen. Wenn wir an etwas scheitern, was uns wichtig war, verletzt uns das. Wabi-Sabi kann uns dabei helfen, Niederlagen aus einer neuen Perspektive zu sehen. Die Lehre besagt: Scheitern ist ein wichtiger Teil unseres Wegs.
Sehen wir uns diese Art über Niederlagen zu denken doch mal etwas genauer an. Ein altes Sprichwort lautet: Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen – und da ist etwas Wahres dran. Um etwas wirklich gut zu können, müssen wir es erst lernen und einüben.
Babys beispielsweise fallen unzählige Male hin, bevor sie gehen können. Das ist völlig natürlich – nur je älter wir werden, desto weniger „Fehler“ dürfen wir uns scheinbar erlauben. Warum eigentlich?
Betrachtet man es genauer, dann lernen wir nie aus. Selbst die größten Meister ihres Fachs üben täglich und lernen auch Tag für Tag etwas dazu. Dieses Dazulernen, Üben und Wachsen ist ein Weg, der niemals endet. Es wird Niederlagen, Rückschläge und Fortschritte geben. Und genau das bringt uns – und auch andere – immer weiter in der Entwicklung voran.
Zu Scheitern ist keine Katastrophe, sondern eine Möglichkeit uns selbst besser kennen zu lernen und Dinge über uns und das Leben zu erfahren, die wir sonst nie herausgefunden hätten.
5. Wabi-Sabi lehrt uns, die Dinge zu akzeptieren wie sie sind
Das Leben kann manchmal extrem ungerecht sein. Viele Menschen müssen harte Schicksalsschläge verkraften und erleben schwere Zeiten. Die Lehre des Wabi-Sabi besagt, die Dinge anzunehmen und zu akzeptieren, wie sie sind. Tun wir das nicht, machen wir uns das Leben nur noch schwerer.
Auf den ersten Blick mag das zunächst hart und unsensibel erscheinen. Doch betrachten wir uns auch diese Denkweise mal etwas genauer. Wabi-Sabi geht davon aus, dass alles Dasein unvollkommen und vergänglich ist und rät dazu, den Dingen mit Ehrlichkeit, Geduld und viel Mitgefühl zu begegnen.
Das Bild von Kintsugi, der japanischen Keramikkunst, kann uns auch dabei helfen, mit den Herausforderungen des Lebens besser umzugehen. Statt wegzusehen, oder zu „vertuschen“ sollten wir die Dinge erstmal annehmen und ehrlich akzeptieren. Damit irgendwann wieder etwas Neues, Kostbares erwachsen kann.
Und um noch den Aspekt der Vergänglichkeit in Wabi-Sabi zu erwähnen: das Tröstlich daran ist, dass auch schwere Zeiten wieder vergehen.
6. Wabi-Sabi rät dazu, jeden Moment bewusst zu genießen
Wabi-Sabi, spricht bereits im Wort von „Patina“, von Spuren des Alters, die wir schätzen sollten. Und auch von Vergänglichkeit. Nicht nur von Dingen, sondern auch von unserer Zeit.
Wenn wir anerkennen, dass unsere Zeit auf Erden endlich ist, kann uns das dabei helfen, mehr Sinn und Wert im Moment zu erleben. Wir lernen Dankbarkeit zu entwickeln, für die vielen kleinen, schönen Erlebnisse, die jeder Tag für uns bereit hält. Kurze Momente der Freude und des Glücks, die wir ohne die Erkenntnis von Endlichkeit vielleicht gar nicht wahrgenommen hätten. Kurz: Wir lernen unser Leben mehr zu schätzen und uns auf das zu konzentrieren, was uns wirklich wichtig ist.
Um all diese magischen Dinge bewusst wahrzunehmen, rät beispielsweise auch die Positive Psychologie, die Wissenschaft des „glücklichen Lebens“ dazu, jeden Tag drei dieser schönen Momente aufzuschreiben.
Das tat übrigens bereits die japanische Dichterin Sei Shōnagon – und zwar schon im 11. Jahrhundert. Sie notierte unter anderem:
Nehmen wir uns ein Beispiel an Wabi-Sabi und nutzen die Zeit, die uns gegeben ist, um die Schönheit und Einzigartigkeit unseres Lebens bewusst wahrzunehmen.
7. Wabi-Sabi bedeutet im Einklang mit unserer Natur zu leben
Aus der genauen Betrachtung der Natur und ihrer Gesetzmäßigkeiten hat Wabi-Sabi viele seiner Einsichten gewonnen: beispielsweise die Vergänglichkeit allen Lebens. Nichts bleibt, wie es ist, alles wächst, verändert sich und vergeht, um wieder neu geboren zu werden. Der ewige Kreislauf des Lebens. Oder wie es der Buddhismus lehrt: der Wiedergeburten.
Doch im Einklang mit der Natur leben wir schon lange nicht mehr. Weder mit der, die uns umgibt, noch mit unserer eigenen. Wabi-Sabi kann uns auch in diesem Punkt helfen.
Indem wir lernen, wieder mehr auf die Natur zu achten, können wir uns auch für unsere eigene Natur sensibilisieren. Kurz innezuhalten und wahrzunehmen, wie es uns geht und was wir gerade brauchen. Was uns schadet und wir abstellen sollten, was uns aufbaut und wir mehr in unser Leben intergieren sollten. Das alles ist Teil dieser japanischen Weisheitslehre.
Das Fazit aus der Weisheitslehre Wabi-Sabi
Wabi-Sabi lehrt uns wertzuschätzen, was wir haben, bewusst den Moment wahrzunehmen und all das loszulassen, was vergänglich ist. Fehler, Makel, Niederlagen und Rückschläge sieht die Lehre als authentisches Leben, aus denen wir alle lernen können und nichts wofür man sich schämen, oder wovor man Angst haben sollte.
Statt nach Perfektion zu streben, sollten wir vielmehr die Unvollkommenheit des Lebens zu schätzen lernen, denn das ist die wahre Natur allen Daseins, alles andere ist eine Illusion.
Wabi Sabi lehrt uns auch, uns selbst und unsere Mitmenschen in einem anderen Licht zu sehen: nicht durch die Perfektionismusbrille, sondern mit Wertschätzung und Mitgefühl. Niemand ist perfekt, jedem passieren Fehler und wenn wir offen und rücksichtsvoll damit umgehen, können wir alle daraus lernen und daran wachsen.
Anders ausgedrückt: Wabi-Sabi ermutigt uns dazu, wir selbst zu sein. Unsere Ziele sollten wir nach dem ausrichten, was uns im Leben Sinn gibt und uns wichtig ist. Und auch wenn wir auf unserem Weg dahin vieles lernen müssen und Rückschläge erleiden werden – das gehört zu unserem Wachstumsprozess dazu. Wabi-Sabi regt uns dazu an, gelassener zu werden und unser Leben mehr zu genießen.
Eine Möglichkeit, diese „Entschleunigung“ zu praktizieren, ist das sogenannte Waldbaden, bei dem wir sehr langsam durch den Wald gehen, statt zielgerichtet von A nach B zu kommen. Es geht darum, zur Ruhe zu kommen, uns mit der Schönheit der Natur zu verbinden und dadurch wieder aufzutanken. Auch ein Pleasure Walk hat eine ähnliche Wirkung.
Die Natur ist vollkommen unvollkommen. Sie funktioniert ohne Urteile, ohne Eile, ohne mehr sein zu wollen, als sie ist. Alles ist in Bewegung, nichts ist von Dauer.
Wenn wir die Schönheit in alle dem sehen können, erleben wir Wabi-Sabi.
Deine Wohlfinderei
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Quelle:
- Japan Digest – Wabi Sabi
- Gold, Taro. (2004) Taro Gold’s Living Wabi Sabi
- Koren, Leonard (1994). Wabi-Sabi for Artists, Designers, Poets, and Philosophers.